Mehrstimmiges zum Verweilen und Weitergehen…
Stationen
An einer Station hält man sich eine Weile auf, und dann geht es weiter – zur nächsten Station. Stationen heißt auch unser diesjähriges Programm und meint damit Lieder zu besonderen Ereignissen und Aufenthalten des Lebens. Wir haben fünf Stationen ausgewählt, die im Kang der Lieder dargestellt werden.
Komponisten haben schon immer, -besonders in der Vokalmusik-, aus ihren alltäglichen Erfahrungen und Erlebnissen geschöpft. Thomas Vautor hat sich Anfang des 17. Jahrhunderts von einem Text inspirieren lassen, der das selbstbewusste Auftreten einer jungen Frau in Sachen Ehe gegenüber ihrer Mutter zum Thema hat. ‚Ich werde einen Ehemann haben, auch wenn die andere keinen haben wird‘, ist ihre Forderung – und offenbar ein Aufbegehren gegen die Konvention, dass die ältere Schwester zuerst verheiratet sein muss, bevor sich die jüngere Hoffnungen machen kann. In einem fünfstimmigen Satz stellt Vautor dar, wie die temperamentvolle junge Frau ihren Eheanspruch vertritt.
Den schlichten Titel „Das Mädchen“ hat ein serbisches Volkslied. Der Wunsch, einen jungen Mann zu heiraten, wird von der Ahnung getrübt, wahrscheinlich doch einen älteren heiraten zu müssen. Rosen und Wermut sind die Bilder, die diesen poetischen Text prägen, der gleichzeitig thematisiert, wie wenig Wunsch und Selbstbestimmung der Frau zählen, wenn z.B. die Familie entscheidet, wen sie heiraten muss. Johannes Brahms hat einen eindrucksvollen Chorsatz zu diesem serbischen Lied geschrieben.
„Wo immer du bist, da werde ich sein“ – diesen biblischen Trauspruch für eine vollendete Liebe haben Hal Davis und andere Anfang der 70er Jahre in ihrem Song verwendet („I‘ll be there“) Wir tragen diesen weit verbreiteten Hit in einem vierstimmigen Satz von Carsten Gerlitz vor.
Clément Marot, französischer Dichter Anfang des 16. Jahrhunderts, hat mit seinem Poem „Mon cœur se recommande à vous – Mein Herz empfiehlt sich ihnen“ keinen geringeren als Orlando di Lasso zu einer Komposition angeregt. Wir kombinieren diesen selten zu hörenden Satz mit einer sehr viel populäreren Vertonung, die aber den Nachteil hat, wahrscheinlich eine Fälschung aus dem 19. Jahrhundert bzw. vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu sein.
Eine temperamentvolle Liebeserklärung stammt aus Armenien, „Sew a čobani šownë“: ‚Ich habe meine Liebste gefunden‘ ist die Hauptaussage, was in malerischen Bildern, ausgehend von der armenischen Gebirgslandschaft, dargestellt wird.
Die ganze Palette der menschlichen Erlebnisse und Erfahrungen wird von den Komponisten im Bereich der Liebe entfaltet: Sehnsucht, Erfüllung, aber auch Enttäuschung und Verlassenwerden sind die Themen. Auch Schmerz gehört dazu, sehr plastisch ausgedrückt etwa in Monteverdis Madrigal „Se tu mi lassi, perfida, tuo danno – Wenn du mich verlässt, Treulose, schadest du dir selbst“. Zum Schmerz gesellt sich eine gehörige Portion Vorwurf.
Auch Henry Purcell geht direkt auf einen Zwiespalt ein: ‚Wenn Liebe eine süße Leidenschaft ist, warum quält sie uns dann?‘ Erst auf Umwegen ist die wahre Zuneigung zu entdecken.
Joseph von Eichendorff hat ein eindrucksvolles Gedicht zum Thema Liebe, Tränen, Schmerzen verfasst („Wehmut“), das Schumann in seinen Eichendorff-Liederkreis aufgenommen hat. Es wird gelegentlich auch als Selbstbekenntnis Schumanns gehört, der, -vermutlich an einer bipolaren Störung leidend, tiefe Depressionen aus eigener Erfahrung kannte. Wir singen einen vierstimmigen Satz, der Helmut Barbes Chorbearbeitungen der Schumann-Lieder entnommen ist. Für den Bearbeiter war es dabei eine besondere Herausforderung, die Vielschichtigkeit der Klavierbegleitung auf das zu reduzieren, was ein vierstimmiger Chor singen kann.
Aber auch in politischen Bewegungen spielen die Beiträge von Liedermachern und Komponisten oft eine wichtige Rolle. Freiheit und Gerechtigkeit und der Weg dahin sind die Themen, so bei Viktor Jara, einem chilenischen Musiker, der gleich nach dem Putsch gegen Salvador Allende auf bestialische Weise ermordet wurde. In seinem Lied „Plegaria a un Labrador – Gebet für einen Bauern“ gibt er die Aufbruchsstimmung wider: ‚Bauer, erhebe dich und schaue auf zum Berge‘.
Mindestens ebenso wichtig wie in Südamerika war dieses Thema in Südafrika, wo im System der Apartheit über viele Jahrzehnte eine beispiellose Unterdrückung der einheimischen, schwarzen Bevölkerung praktiziert wurde. Aber die Freiheit kommt, – „Freedom ist Coming“ ist eine der bekanntesten Hymnen, die im Zuge dieses Widerstandes entstanden ist und die auch heute noch mit ihren packenden Rhythmen fesselt.
Schließlich wird auch das Älterwerden im Liedgut erfasst. Kein geringerer als Joseph Haydn hat sich auch mit dem Thema des Alters und des Abschiednehmens befasst und ein Gedicht („Der Greis“) von Johann W. L. Gleim, bekannter Dichter zur Zeit der Aufklärung, in Töne gesetzt. Mit der Schlusszeile „ein harmonischer Gesang war mein Lebenslauf“ klingt die Komposition aus. Wie viel Ironie bei dieser Komposition mitschwingen soll, ist, wie so häufig bei Haydn, virtuos in der Schwebe gehalten.
Johann Michael Bach, ein Komponist aus der Familie Bach, vertonte einen Vers aus dem Psalm 90 in der Übersetzung Luthers, in dem das 70ste Lebensjahr als Jahr ausgeführt wird, in dem man Abschied nehmen muss: „Unser Leben währet siebenzig Jahr“. Man könne aber auch noch 80 werden, -ein Maßstab aus biblischen Zeiten, der wohl auch heute noch Gültigkeit hat. Seine Sorge galt aber vor allem dem Nachleben, wie seine Seele in Abrahams Schoß gelangen könne, was er in einem Choral, der den Cantus firmus für die Psalmvertonung bildet, ausführt. Je älter man wird, desto mehr scheint die Zeit zu eilen: „Als flögen wir davon!“