2012 01.06. „(Un) Zeitgemäßes“
Mehrstimmiges in Dur und Moll Zu unserem Programm
Vielfältig sind die Ausdrucksmöglichkeiten der Lieder und Chorwerke; sie sind von einer großen Spannweite geprägt, die auch Kontraste und Widersprüche umfasst. Oft geht es um Zeitgemäßes, aber auch auch um Unzeitgemäßes, wie es in unserem Titel heißt.
So wird die Liebe durchaus gegensätzlich und dramatisch beschrieben, wie die Texte vom Mittelalter bis heute zeigen. „Nur leben wollen, wenn die Liebe weiter zunimmt“, gibt ein Lied aus England von Thomas Tomkins als Devise aus („O let me live“). Aber auch ein Gedicht von Torquato Tasso, italienischer Dichter des 16. Jahrhunderts, ist nicht weniger ausdrucksstark. „Verlorene Zeit kehrt niemals zurück“ muss sich der Liebende sagen lassen, als er seine schlafende Cloris betrachtet. Nur das Paradies ist zeitlos. Monteverdi hat diese Strophen unvergleichlich in Töne gesetzt („Dolcemente dormiva la mia Clori“).
Ein populäres Lied aus dem Tessin schlägt heitere Töne an. Die geliebte Schöne („Belleza mia cara“) wird überschwänglich gelobt, bis hin zur Bereitschaft, für sie zu sterben. Vom Sterblichen zum Unsterblichen (vergleiche unseren ersten Block) ist in der Dichtung oft nur ein kurzer Weg.
Nach dem Vergnügen und dem Feiern kommt (un)vermeidlich das Fasten, so zumindest im Spanien des ausgehenden Mittelalters. So muss man sich am Vorabend des Aschermittwoch erst noch einmal mit Speise und Trank kräftig stärken, – augenzwinkernd unter Anrufung des Heiligen Antruejo, zu dessen Ehren dann ab dem nächsten Tag gefastet wird. Der spanische Komponist Juan del Encina hat in einer rhythmisch betonten Melodie dieser eigenwilligen Sitte Ausdruck gegeben („Hoy coma- mos y bebamos“).
Das Beschwören der Liebe und der/des Geliebten kennt keine Ländergrenzen, wie man an einem Lied aus Island sehen kann. „Meine Augen und deine Augen sind wie Juwelen“ heißt es im Text von Rósa Gudmundsdottir. Das kommt fast in der gleichen Weise in der südamerikanischen Folklore vor. Dort ist von den himmelblauen Augen die Rede, denen sich keiner entziehen kann („Ojos Azules“ aus Ecuador).
In einem bulgarischen Lied, das traditionell vom Dudelsack begleitet wird, schlägt die Mutter der Tochter vor, einen Krämer oder Schulmeister zu heiraten („Posakala mila mama“). Es bleibt jedoch nicht beim Dudelsack-Spielen, sondern die junge Frau entscheidet sich für einen Dudelsackspieler, wohl doch nicht so ganz im Sinne des mütterlichen Ratschlags.
Bei allen Gefühlen spielt auch die Natur eine große Rolle. sei es vermittelt oder auch unvermittelt. Dvorak hat in seinem fünfteiligen Zyklus „In der Natur“ den Gefühlen unvermittelt Ausdruck gegeben. Der Zyklus zeichnet sich durch ein intensives Spiel mit Harmonik und Lautmalereien aus, wodurch die Dichtung Vítězslav Háleks sofort zu Herzen geht. Wir tragen aus dem Zyklus das zweite Stück vor: „Večerní les rozvázal zvonky – Hörst du des Haines Abendgeläute“.
Musik hat schon immer versucht, den drängenden Fragen der Zeit Ausdruck zu geben. Der Friede war zur Zeit von Heinrich Schütz (Dreißigjähriger Krieg) wie auch zur Zeit Hugo Distlers in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein herausragendes Thema. Beide haben sich zeitgemäß in der Tonsprache ihrer Zeit ausgedrückt, mit dem gleichen Text („Verleih uns Frieden genädiglich“). Bei Schütz kommt das Bedrängende eindrucksvoll zum Ausdruck, während bei Distler das Ahnungsvolle überwiegt.
Auch Mikis Theodorakis hat nach Texten von Tasos Livadhitis die dunklen Seiten des Krieges dargestellt, wobei er auf einen selten erwähnten Aspekt eingeht, nämlich die Schicksale von Kindern in solchen Zeiten („Klagetrommel aus Asphalt“). Angesichts des Massakers von Hula (Syrien) mit vielen getöteten Kindern erhält der Text dieses Liedes eine bedrückende Aktualität.
Das Thema der Unterdrückung ist sehr alt und auch in biblischen Psalmen zu finden. „An den Wassern zu Babel“ sollten die verschleppten Juden zum Wohlgefallen der Unterdrücker Lieder anstimmen, wogegen sie sich wehrten. Heinrich Schütz vertonte den Psalm im Jahre 1619 in einer doppelchörigen Motette und begründete damit eine umfangreiche Tradition, diesen Text musikalisch auszudrücken. Mit der Beteuerung, auch in der Trennung die Treue zu halten, schließt sich ein Bogen zum ersten Stück unseres Konzertes mit eben dieser Beteuerung – wenn auch auf einer ganz anderen Ebene: zeitgemäß oder unzeitgemäß?