2016 11. 6. „Von Flucht und Zuflucht…in alten und neuen Zeiten“
Mehrstimmiges von gestern und heute
so heißt unser Programm und spricht damit ein aktuelles Thema an. Flucht – und die Hoffnung auf Zuflucht – gab es schon immer und die Chormusik hat darauf in vielfältiger Weise reagiert.
Im Zentrum des Programms stehen zwei Kompositionen. Der „Flüchtende“ aus den „Ungarischen Volksliedern“ von Béla Bartók (1930), beschreibt eine Lebenssituation, mit der im 19. und 20. Jahrhundert viele Menschen auch in Europa konfrontiert waren: „Heute ist es Zeit zu wandern. Weite Wege liegen vor mir.“ Auch Bartók musste fliehen und starb 1945 im US-amerikanischen Exil.
Die zweite Komposition ist während des Dreißigjährigen Krieges entstanden und erschien 1648 im Druck: Heinrich Schütz’ fünfstimmiger Chorsatz über Psalm 31 „Herr, auf dich traue ich“. Viel Hoffnung spricht aus diesen Worten, dass ein „starker Hort“ sich auftut, „zu dem ich immer fliehen möge“, wie es Martin Luther in seiner Übersetzung formuliert hat.
Die Erfahrung von Flucht und die Wichtigkeit von Zuflucht wirft unserer Meinung nach auch ein anderes Licht auf Chormusik mit, -nennen wir es einmal-, konventionelleren Themen, sie färbt sie sozusagen anders ein.
Betrachten Sie vor diesem Hintergrund einmal die vielen Naturbilder in den Liedern unseres Programms. Antonín Dvořák hat in seiner Sammlung „In der Natur“ Stimmungen eingefangen, die viel Harmonie und Verbundenheit mit der Heimat zum Ausdruck bringen. Wir singen aus dieser Sammlung das Lied über die „Birke am grünen Bergeshang“, die mit ihrem Blätterrauschen als ein Symbol für die Schönheit der Schöpfung dargestellt wird. Hugo Alfvén, bedeutender schwedischer Komponist und Dirigent, besingt Blaubeeren („Uti vår hage“) oder „Freudenblumen“, die Hoffnung und Liebe bringen („Glädjens Blomster“). Ein griechisches Lied drückt die Ermahnung aus, nicht aufzugeben, auch wenn der Apfelbaum am Steilhang steht („I Militsa“), und in Gastoldis Madrigal murmeln die Quellen („Al mormorar de liquidi cristalli“).
Auch Klage und Liebesleid können vor dem Hintergrund von Flucht und Zuflucht gelesen werden, so Monteverdis Vertonung der Klage über eine früh Verstorbene („Darà la notte il sol“), John Dowlands Klage eines reuigen Liebhabers („Can she excuse my wrongs“), Daniel Fridericis Studentenlied („Ade, ich muss nun scheiden“). Liebeslieder dagegen erscheinen im Licht der ständigen Bedrohung: Wie leicht können Flucht und Vertreibung die soeben noch glücklich besungene Liebe zerstören.
Und, fast unmerklich, entstehen auch geographisch Fluchtrouten, wobei vor allem die inzwischen mit Stacheldraht geschlossene „Balkanroute“ musikalisch wieder geöffnet wird. „Što Mi E Milo“ handelt von der Stadt Struga, „Stadt der Brücken“ genannt, in Makedonien. Ein junger Mann besäße dort gerne ein Geschäft, um dem Treiben der Mädchen beim Wasserholen zusehen zu können.
Gegliedert wird unser Programm durch afrikanische Chorlieder. Afrika ist der Kontinent, der von großen Wanderungsbewegungen geprägt ist, insbesondere während der Apartheid im südlichen Afrika. In Namibia waren die Männer oft weit weg auf Arbeitssuche. Schwer ist es, diese Trennung zu ertragen und die Sehnsucht nach der Liebsten ist groß, heißt es in dem Lied „Kaises !nuse hâ – Du bist weit weg.“
Mit Mond und Sonne – Symbole unterschiedlicher Sehnsüchte – endet unser Programm versöhnlich.